Die e-Moll-Messe in der
Aufführungstradition der Chorvereinigung St. Augustin

Die Chorvereinigung ist schwierige Werke gewohnt. Sie gehören zwar nicht zum „täglichen Brot“, verteilen sich aber übers Jahr ungleichmäßig in der ambitionierten Programmgestaltung unseres Chorleiters, der schon auch einmal zwei Bruckner-Messen, jede für sich schon keine einfache Sache, hintereinander ansetzt.

Der Chor probt Dienstag Abend. Die „kleinen“ Messen (wie das meiste von Mozart) oft gar nicht: da müssen die 45 Minuten Probe unmittelbar vor dem Hochamt, plus allenfalls eine halbe Dienstag-Probe genügen; Werke in der Kategorie „Paukenmesse“ oder Puccinis „Messa di Gloria“ finden mit einer ganzen oder zwei halben Proben das Auslangen; die großen Schubert-Messen oder Bruckner bekommen bis zu zwei ganze Proben, Neueinstudierungen größerer Werke durchaus auch etwas mehr. Ab der „mittleren Kategorie“ wird dann auch mit Orchester und Solisten unmittelbar vor dem Hochamt in der Kirche geprobt: meist 45-50 Minuten, bei Werken wie Mozart c-Moll oder Bruckner f-Moll schon auch einmal 90-100 Minuten; bei der e-Moll-Messe waren es zuletzt 80 Minuten öffentliche Generalprobenzeit.

Die e-Moll-Messe stellt zweifellos den Höhepunkt unseres gesamten Repertoires dar, was den Anspruch an die stimmlichen Qualitäten der Mitwirkenden anlangt. Bei keiner anderen Messe stehen an so vielen Stellen die Stimmen völlig „nackt“ da, ungestützt durch Instrumente und, was die Sache noch haariger macht als bei A-Cappella-Literatur, nicht einmal gestützt durch die Textur der anderen Stimmen. An dieser Messe zeigt sich, ob die Menschen in einem Chor wirklich singen können, oder – wie das ja leider vielfach passiert – nur „mitsingen“, mitschwimmen im Strom der Musik. Die e-Moll-Messe ist die Stunde der Wahrheit. Das relativ Einfache bei den anderen Orchestermessen ist: das Orchester unterstützt die Chorstimmen. Meistens. Das relativ Schwierige bei A-Cappella-Messen ist: der Chor ist ganz auf sich und seine Intonationsfähigkeit allein gestellt. Wo er jedoch am Ende „ankommt“, stört nur eine sehr kleine Minderheit von Zuhörern mit absolutem Gehör. Das extra Schwierige bei der e-Moll-Messe jedoch ist: Der Chor muss die Tonführung mit äußerster Präzision beherrschen. Ob die 8 Stimmgruppen am Beginn des Sanctus die Töne tatsächlich in der richtigen Höhe zu halten vermögen, entscheidet sich, wenn nach 26 Takten kontinuierlicher Steigerung das Blech gnadenlos auf seiner richtigen Tonhöhe einsetzt und damit sofort einen doch nicht ganz so professionellen Chor enttarnt, der glaubt, er könnte halt auch die e-Moll-Messe aufführen. Oder auch einen Weltklasse-Chor ernüchtert, wenn der gerade einmal einen schlechten Tag hat.

Wie das alles zur Zeit der Uraufführung geklungen haben mag, wo an die 400 Sänger verschiedenen Geschlechts selbst die Blechbläser zudecken konnten, wo die Chorkultur überhaupt eine andere war, ist heute nur mehr schwer nachvollziehbar. Wagen wir jetzt einmal die Unterstellung, dass dabei oft Qualität durch Quantität ersetzt werden musste. Laut war es in jedem Fall. Wir haben da heute doch einen etwas anderen, kammermusikalischeren Zugang. Viel kleinere Besetzungen. Der Nachteil: feinste Schwebungen, jede kleine Abweichung, treten – nicht nur an den Pianissimo-Stellen – unverdeckt zu Tage. Der Vorteil: feinste Schwebungen, jede kleine Nuance, werden an den zarten Pianissimo-Stellen hörbar und zwingen den Mitfeiernden eine der in der Jesuitenkirche üblichen Grundhaltungen geradezu auf: abheben und schweben (© P. Gustav Schörghofer) – oder einfach vor lauter Freude über so viel Schönheit niederknien.

Wie auch bei der f-Moll-Messe, wenn auch auf Grund der Besetzung in intimerer, mehr meditativer Weise, entfaltet Bruckner hier einen Klangraum, der die gesamte Liturgie umschließt. Wieder bedient Bruckner sich der klassischen tonalen Farbenlehre, um die im Text vermittelten Inhalte zu verdeutlichen und mit Leben zu erfüllen. Farbe und Licht durch Musik. Als kleines Beispiel sei hier nur der Mittelteil des ersten Satzes, Kyrie, angeführt: das Christe eleison. Wie beiläufig beginnen die „Christe“-Rufe in D-Dur und verdichten sich in den 8 Stimmen immer weiter, bevor sie, durch die Bedrängnis von e-Moll hindurch sich nach oben ringend, schließlich jubelnd, fortissimo, in den himmlischen reinen H-Dur-Dreiklang münden. Hier steht kurz der Himmel offen, die Szene wird mit strahlendem Licht geflutet, und dann: Generalpause, Stille. Die Vision vom offenen Himmel ist zu Ende, wir sind wieder in irdischer Düsternis. Das neuerliche Kyrie beginnt wie der Anfang der Messe ganz ruhig, in nüchtern-dämmrigem e-Moll. Der Satz endet schließlich, ganz ähnlich wie das Kyrie der f-Moll-Messe, in äußerster Verhaltenheit – jedoch wie auch dort nicht niedergedrückt-resignativ, sondern, wie mit einem Fragezeichen versehen, in einer offenen, lauschenden Haltung.

Anton Bruckner mühte und plagte sich „mit der Einstudierung meiner achtstimmigen Messe“ wochenlang mit den ihm damals zu Verfügung stehenden Sängerinnen und Sängern. Diese Plage bleibt unserem Chorleiter erspart. Jede Wiederaufnahme des Werkes ist nur mehr Verfeinerung des bereits Erarbeiteten, ein In-Erinnerung-Rufen bereits geprobter Gestaltung von Phrasen und musikalischen Bögen. Schon die immer sehr intensive Probenarbeit unter Andreas Pixners Leitung, dem es immer wieder gelingt, Großartiges aus einem – letztlich doch – Laienchor herauszuholen, und mit unserem Korrepetitor Max Schamschula, möglicherweise dem besten in Wien, ist reines Vergnügen, nicht „Mühe und Plage“.

Wir fanden die Messe im November 2018 besonders gelungen und für alle beglückend. Die Messbesucher ließen sich, als der Zelebrant wie immer vor dem Schlusssegen dem Chor und den Musikern dankte, nicht nur – wie meist – zu begeistertem Applaus, sondern sogar zu Bravo-Rufen hinreißen. Dennoch bleibt die nun auf CD vorliegende Aufnahme eine Live-Aufnahme, was bei dieser Messe ein ganz besonderes Wagnis darstellt. Nicht alles daran ist perfekt, es ist „live“ und kann nicht revidiert werden. Der Chorleiter hat Bedenken die CD herauszubringen. Das ist seine Aufgabe: den Chor möglichst nahe an Perfektion heranzuführen. Auch so etwas muss gesagt werden, wenn man ein derartiges Werk auf CD bringt, ohne Studio-Qualität bieten zu können. Jeder kleine Fehler, jede leise Unsauberkeit, kann wieder und wieder abgespielt werden. Wir haben versucht, so wenig wie nur möglich davon zu machen und präsentieren Ihnen mit der Aufnahme aus dem wunderbaren Hochamt vom 18. November 2018 in der Wiener Jesuitenkirche dieses großartige, ja überwältigend schöne Werk in einem Wurf.

(Martin Filzmaier)