Giuseppe Verdi, Messa da Requiem
Konzert am 19. Mai 2016

Giuseppe_Verdi

Eine Werkeinführung zum Vor- oder Nachlesen, aus der Perspektive eines Mitwirkenden.
Von Martin Filzmaier

Zu Verdis Requiem können Sie ausführliche musikwissenschaftlich relevante Informationen den Konzertführern oder auch den bemühten Wiki- und anderen -pädien im Internet entnehmen. Sie erfahren dort, dass Verdi diese Totenmesse nach dem Tod des Dichters Alessandro Manzoni im Jahre 1874 geschaffen hat. Er verwendete dafür den „Libera me“-Schlusssatz, den er für die als Gemeinschaftswerk konzipierte „Messa per Rossini“ komponiert hatte. Sie lesen ferner, dass Verdis Requiem oft als seine „schönste Oper“ beschrieben wird. Obwohl das Requiem als erste Komposition seiner Art, also eine Totenmesse der katholischen Kirche, nicht für die Verwendung in der Liturgie, sondern als Werk für den Konzertsaal geschaffen wurde und natürlich Verdis musikalische – durch und durch „opernhafte“ – Tonsprache verwendet, ist es dennoch geistliche Musik.

Worum geht es nun in dieser schönen Oper „Messa da Requiem“? – Um den (individuellen) Tod, würde man meinen, da eine Totenmesse ja meist ihren Anlass im Ableben einer konkreten Person hat. Tatsächlich beginnt die Totenmesse ja im Pianissimo, mit der Bitte für die Toten („… und das ewige Licht leuchte ihnen“) und mit der Anrufung „Herr, erbarme Dich“. Mit dem Beginn der Sequenz, dem Dies irae wendet sich jedoch das Blatt. Es ist, als würde nach der Einstimmung, dem Prolog, erst jetzt der Vorhang aufgezogen. – Und es eröffnet sich großes Welttheater! Nicht mehr um Sterben, Ruhe und Frieden geht es hier, sondern um die letzten Dinge, um das große Aufräumen, das endgültige, letzte, also „jüngste“ Gericht, „judex (…) cuncta stricte discussurus“, bei dem der große Weltenrichter sich ganz genau anschauen wird, was in den vielen Jahrhunderten der Menschheitsgeschichte so alles an Verfehlungen, Verbrechen und himmelschreiendem Unrecht begangen wurde.

Natürlich erfasst der Operndramaturg Verdi, dass bei so einem Thema die gesamte Maschinerie aufgefahren werden muss. Und es ist ja auch ein starker Text, der da aus dem 13. Jahrhundert auf uns gekommen ist! Hier ist definitiv Schluss mit lustig, alle erzittern, erschauern, erbeben nur mehr vor der ungeheuren Gewalt, mit der die unüberschaubare Menge an Unrat/Unrecht hinweggefegt wird; nein, nicht nur hinweggefegt, sondern „solvet saeclum in favilla“, die ganze Welt lässt er vergehen in Staub und Asche, dieser Tag des reinigenden Zorns.

Jetzt ist er da, Er, der Richter, „stricte discussurus“ – und nun passiert vor unseren Augen und Ohren etwas, was so noch nie vertont wurde. Denken Sie an Mozarts wunderschöne Posaunen-Kantilene des „Tuba mirum“: Nichts davon bei Verdi! Hier inszenieren die von Ferne (und in der Jesuitenkirche von den Seitenemporen) ertönenden Bläser die letzten Posaunenklänge des Jüngsten Gerichts – und „schön“ ist das nicht, was hier auf uns zukommt. In den 26 Takten dieser genialen Komposition erfahren wir gebannt, was es heißt, die Toten aus ihren Gräbern zu rufen. Da wird keine freundliche Einladung ausgesprochen: in tiefstem Ernst und höchster Dringlichkeit ertönt dieser letzte Weckruf, „Coget omnes ante thronum“ – er zwingt (uns) alle vor (seinen) Thron. Am Höhepunkt dieser Steigerung können wir nur mehr entsetzt aufschreien „tuba mirum spargens sonum“, aber nicht wie Menschen, die den wunderbaren Klang dieser Posaune hören, sondern wie Menschen, denen es jetzt an den Kragen geht! Alle Lebenden werden gerichtet, und auch die Toten: „Mors stupebit“ – der Tod und unsere sterbliche Natur, die ja immer das letzte Wort hatten, werden – ja, „stupere“, wie übersetzt man das? Verblüfft sein? – das Nachsehen haben, wie vor den Kopf gestoßen sein, wenn sich auf einmal alle Kreatur aus dem Grab erhebt, um vor ihren Richter zu treten. Schon entfaltet sich das Gericht: ein Buch „in quo totum continetur“ wird vorgebracht – die gesamte Menschheitschronik – und da wird alles aufgedeckt, was so in den Jahrhunderten unter den Teppich gekehrt wurde, nichts bleibt ungestraft (und unbelohnt, müsste man hinsichtlich des vielen Guten, das auch getan wurde, ergänzen – doch dieser Aspekt spielt hier überhaupt keine Rolle), „dies irae“, wirft der Chor immer wieder flüsternd ein, damit wir nicht vergessen, worum es hier geht. Immer auswegloser wird die Situation, was soll ich antworten, womit kann ich  mich rechtfertigen, wen kann ich mir zu Hilfe rufen, wo doch sogar der Gerechte kaum bestehen kann?

Rex tremendae majestatis, antwortet der Chor. Das kann man kaum übersetzen: „König von zu erzitternder Erhabenheit“ klingt gekünstelt, holprig und bei weitem nicht so ehrfurchtgebietend wie das lateinische Original. Mit c-Moll und As-Dur ist es jedoch nach ein paar Takten vorbei, denn der vermeintlich schreckliche Weltenrichter stellt sich als „der ganz Andere“ (die vielleicht verblüffendste Eigenschaft Gottes) heraus, als „fons pietatis“, also ein Quell von Milde und Nachsicht, der sich derer, die noch zu retten sind („salvandos“), „gratis“ erbarmt. Das bekommt nach den Solisten auch der Chor mit, der dann immer drängender, „salva, salva me!“ seine Rettung einfordert.

Der Weltenrichter ist nun als Christus Jesus identifiziert, der von den Solisten an die Heilstaten seines Erdenlebens erinnert wird. Der Chor jedoch ahnt, dass es ihm wohl doch an den Kragen gehen wird und rollt noch einmal das „Dies irae“-Geschrei aus, bevor er nach der Bitte um Verschonung schließlich im „dona eis requiem“ endet: „gib ihnen (die ewige) Ruhe“.

Das große Welttheater der Sequenz ist nun vorbei. Szenenwechsel. Die Solisten bestreiten das Offertorium; Sanctus und Benedictus sind eine flotte, heitere, doppelchörige Doppelfuge – da singen wohl die Engel im Himmel, und von der zu Staub gewordenen Welt ist nichts mehr zu sehen. Völlig losgelöst vom vormaligen Drama des Weltgerichts ist auch das Agnus Dei. Ort der Handlung: das himmlische Jerusalem; in seiner Mitte das Lamm, das von den Solistinnen unisono angebetet wird. Die überirdische Atmosphäre wird auch vom Chor übernommen, der am Ende nochmals für die Toten („dona eis requiem sempiternam“) bittet. Das schließlich solistisch vorgetragene „Lux Aeterna“ behält die Perspektive „aus dem Himmel herab“ bei und verklingt im Pianissimo dolcissimo.

So idyllisch-versöhnlich endet Verdis Requiem jedoch nicht. Der letzte Abschnitt, das „Libera me Domine“, führt uns noch einmal zurück an den Tag des Jüngsten Gerichts, betont allerdings den zuversichtlicheren Teil der christlichen Heilslehre. Dieser lässt sich in der alten Anrufung „per iudicia tua libera nos, Domine!“ zusammenfassen, „durch Deine Gerichte befreie uns, o Herr!“. Diese Tradition sieht das Weltengericht nicht als Bedrohung, sondern als ultimativen Befreiungsschlag Gottes, der endlich seine Kirche von der Bedrängnis irdischer Verfolgung erlöst. Sogar das ängstliche „tremens factus sum ego et timeo“ wird vom anfänglichen c-Moll im Schlussakkord in verhaltenes, aber lichtes C-Dur aufgelöst. Dies kontrastiert der Chor mit einer nochmaligen dramatischen Reminiszenz an den „Dies irae“, der jetzt als ein „dies magna calamitatis et miseriae“ beschrieben wird, und klingt schließlich völlig düster und in Hoffnungslosigkeit aus.

Diese wird in eine äußerst verhaltene, abschließende Bitte „requiem aeternam dona eis, Domine“ übergeführt, und das Werk verklingt schließlich im vierfachen Pianissimo. – Könnte man meinen.

Doch die Sopranistin wirft neuerlich, gebetsmühlenartig („senza misura“) das „Libera me, Domine, de morte aeterna“ auf und führt schließlich den Chor zu einem „Allegro risoluto“ desselben Textes, einer meisterhaften Fuge, in der die Befreiungsbitte nochmals in letzter Eindringlichkeit vorgetragen wird.

Das Werk endet – nun wirklich – im dunkelsten C-Dur, das man sich vorstellen kann, „morendo“, „sterbend“ also, kaum mehr hörbar, in den Bitten des Chors: „Libera me“.